Wenn die Sucht in den Melker Stadtgraben führt
MELK. Über eine Million Österreicher sind alkoholabhängig oder trinken in einem gesundheitsschädlichen Maß. Tips hat die Suchtberatungsstelle in Melk (Stadtgraben 10) besucht und nachgefragt.

Bereits ein Glas Alkohol am Tag sei gesundheitsschädlich – so das Ergebnis einer zuletzt veröffentlichen Studie von Wissenschaftlern der University of Washington, das für Schlagzeilen sorgte. Deutsche Statistiker und Psychologen kürten die Studie der Amerikaner kurze Zeit später zur „Unstatistik des Monats“, weil im zunächst veröffentlichten Bericht nur der leicht missverständliche relative Gesundheitsrisikoanstieg, der durch ein alkoholisches Getränk am Tag entsteht, vermerkt war und die absoluten Zahlen ein anderes Bild zeigten.Fakt ist – darüber sind sich die Wissenschaftler jedenfalls einig – dass übermäßiger Alkoholkonsum schädlich ist und süchtig machen kann. Wird der Griff zu alkoholhaltigen Getränken zu einem Zwang, verliert man die Kontrolle über die Menge, den Beginn und die Beendigung des Konsums,gibt es ein körperliches Entzugssyndrom, wenn weniger oder nicht mehr getrunken wird, dann deutet das neben anderer Kriterien nach der sogenannten ICD-10 (Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten) auf eine Alkoholabhängigkeit hin. In Österreich sind rund 350.000 Menschen alkoholabhängig, weitere 750.000 Menschen trinken in einem gesundheitsschädlichen Ausmaß. Viele sind Scham-, Angst- und Schuldgefühlen ausgesetzt, oft leidet das Sozial- und Berufsleben unter der Sucht. Hilfe finden Betroffene unter anderem in Suchtberatungsstellen, wie etwa in der der Caritas in Melk. Das Angebot richtet sich an Menschen mit problematischem bis hin zu abhängigem Alkohol-, Medikamenten- und Drogenkonsum und deren Angehörige. Tips hat dort mit der Pielachatalerin Ulrike Gerstl gesprochen, die die Suchtberatungsstellen der Caritas in der Diözese St. Pölten leitet und auch als Regionalleiterin für das Mostviertel zuständig ist. In den Bezirken Scheibbs, Amstetten und Melk werden von ihr und ihrem Team rund 600 Betroffene und Angehörige betreut.
Tips: Was passiert in der Suchtberatungsstelle? Wofür ist sie da?
Gerstl: Wir sind eine erste Anlaufstelle für suchtspezifische Fragestellungen und Suchterkrankungen. Zu uns kommen Menschen, die mit ihrem Konsum Schwierigkeiten haben. Der Zugang zur Beratungsstelle ist sehr unkompliziert und kostenlos. Man kann einfach vorbeikommen. Meist melden sich die Menschen aber telefonisch an, weil sie wissen wollen, wie das Ganze funktioniert.
Wie laufen Beratungen ab? Kommen die meisten Menschen freiwillig zu euch?
Die Beratungen finden überwiegend in Form von Einzelgesprächen statt. Ja, ein Großteil der Personen kommt freiwillig. Wir arbeiten ja unter strenger Verschwiegenheit. Ein anderer Teil kommt in Folge von Zuweisungen, wenn gerichtliche Auflagen erfüllt werden müssen.
Worauf zielt die Suchtberatung?
Man muss nicht in erster Linie sagen, man will aufhören zu konsumieren, wenn man zu uns kommt. Jemand, der eine Suchterkrankung hat, kann nicht so einfach aufhören. Abstinenz kann ein Ziel von vielen sein. Vielfach geht es zunächst darum, das Überleben einer Person zu sichern, ihre Gesundheit zu erreichen und zu erhalten und um die Integration in die Gesellschaft.In den ersten Beratungseinheiten wird eine erste Bestandsaufnahme gemacht. Fragen rund um das Konsumverhalten und etwaige finanzielle, familiäre und berufliche Schwierigkeiten werden besprochen. Neben Sozialarbeitern stehen den Betroffenen auch Ärzte und Psychotherapeuten zur Verfügung. Im Schnitt dauert eine Beratungsphase zwischen zwei und drei Jahre, zeitliche Grenzen gibt es aber nicht. In den seltensten Fällen gibt es keine Rückfälle. Wir versuchen die Personen darauf vorzubereiten. Sie sollen sich nicht aus Scham nicht mehr an uns wenden. Die Tür zu uns steht immer offen.
Ist ein Bier oder ein Gläschen Wein pro Tag schon besorgniserregend?
Letztendlich geht es nicht nur um die Menge, sondern auch darum, warum ich konsumiere. Konsumiere ich in Situationen, in denen es unangepasst ist, oder ich nicht soll, etwa am Arbeitsplatz, hinter dem Steuer oder in der Schwangerschaft? Komme ich ohne Alkohol nicht mehr zu einer Entspannung?
Gibt es Risikogruppen, also Menschen, die vermehrt abhängig werden?
Menschen, die Alkohol sehr gut vertragen sind, so paradox es klingt, oft gefährdeter, weil sie dazu neigen mehr zu trinken und das wiederum zu einer Gewöhnung und Abhängigkeit führen kann. Auch Personen, die sehr belastet sind und keine Strategien haben, damit umzugehen. Es gibt auch familiäre Häufungen, das heißt, wenn ich mehr Menschen mit Suchterkrankungen im Umfeld habe, kann das ein Risikofaktor sein. Grundsätzlich gilt aber, dass die Herkunft, die Sozialisation egal ist. Dass man mit höherer Schulbildung weniger gefährdet sei, stimmt nicht.
Was halten Sie von Verboten?
Verfügbarkeit spielt natürlich eine Rolle. Allerdings gibt es in jeder Gesellschaft einen gewissen Anteil an Menschen, die an Suchterkrankungen erkranken – egal wie verfügbar etwas ist. Dass es weniger Alkoholkranke gäbe, wenn man Alkohol verbietet, glaube ich nicht. Man darf die Frage nach Verboten nicht isoliert sehen. Es geht hier auch immer darum, wie eine Gesellschaft mit ihren Freiheiten umgeht. Und darum, welche Angebote es gibt, um ein gutes Leben führen zu können. Neben Verboten braucht es vor allem auch Angebote.
Die Melker Suchtberatungsstelle ist die einzige Beratungsstelle im Bezirk. Wie viel Personal steht ihr zur Verfügung?
Wir haben in Melk Fachpersonal für 60 Wochenstunden, die sich zwischen Sozialarbeitern, die 45 Wochenstunden haben und Psychologen und Arzt, die jeweils siebeneinhalb Stunden für die Beratungsstelle arbeiten, aufteilen.Würden Sie gern mehr Personal haben, oder kommen Sie damit gut aus?Unsere Erfahrung zeigt, dass mit mehr Angebot auch mehr Zulauf entsteht. Hätten wir mehr Personal, würden wahrscheinlich auch mehr Menschen zu uns kommen. Wir sind gut ausgelastet.
Was ist für Suchtberater ein Erfolg? Abstinenz muss es offenbar ja nicht zwingend sein.
Für uns ist es ein Erfolg, wenn Personen ihre Ziele erkennen und umsetzen können. Wir sind dafür fachliche Begleiter. Erfolge können entsprechend den Zielen der Menschen sehr unterschiedliche sein. Es geht nicht darum, die Menschen zu pädagogisieren. Viele Angehörige haben oft die Vorstellung, dass wir jetzt den Betroffenen erklären, wie schlecht ihr Verhalten ist. Wir versuchen offen und wertfrei zu arbeiten. Entscheidungen müssen die Personen letztendlich selbst treffen. Manche sterben in der Zeit der Beratung. Da muss man schon realistisch sein – das gibt es eben auch.
Was hält Sie schon seit so vielen Jahren in der Suchtberatung?
Ich hatte hier sehr viele herzliche Begegnungen. Auch wenn es ein bisschen theatralisch klingt, viele Menschen haben hier auch wieder Hoffnung geschöpft, weil sie auf Menschen getroffen sind, die sie nicht vorverurteilt haben.
Trinkt man als Suchtberater eigentlich auch hin und wieder Alkohol?
Ich bin jetzt kein Asket (lacht). Natürlich hat man eine andere Wahrnehmung und sieht Dinge bewusster.
Kommentare sind nur für eingeloggte User verfügbar.
Jetzt anmelden